einführungsrede

Einführung von Elke Schweigart

Künstlerin, BBK Schleswig-Holstein

Graffitti, Spitzbergen, 2024

Liebe Frau Dr. Behrens, liebe Künstlerinnen und Künstler, liebe Gäste,

ich freue mich, in die Ausstellung „AUSZEIT–INSIDE“ einführen zu dürfen, zu der uns die Künstlerinnen Susanne Kallenbach, Kerstin Mempel und Clemens Franke heute einladen.

Die drei Künstlerpersönlichkeiten verbindet ihr Studium an der Muthesius-Kunsthochschule in Kiel, mehr aber noch ihr Interesse an fremden Kulturen und Lebensformen; an der Lust, zu reisen und sich auf Neues und Ungewohntes einzulassen, mit allen positiven und negativen Begleiterscheinungen. Alle drei haben in den letzten 20 Jahren an vielen Orten im Ausland künstlerisch gearbeitet, haben meist für mehrere Wochen oder Monate dort gelebt. Als Arbeitsort suchen die Künstler sogenannte „Artist Residencies“ auf, die mit Wohn- und Atelierraum für Künstler vorgehalten werden. Sie sind für gewisse Zeit ein „Artist in Residence“, und genau dafür steht die Abkürzung im Titel: AIR.

Diese Orte sind für Künstler ungemein wichtig. Sie ermöglichen konzentriertes Arbeiten abseits von Alltagsthemen, von Nebenjobs und Verpflichtungen, die am eigenen Wohnort ja immer präsent sind. Alle Künstler, die je solche Residenzen gemacht haben, erleben diese Orte als Schutzraum wie auch als Brutstätte neuer Kunst.

Ja, könnte man da einwenden, bewegen sich die Künstler dann nicht sozusagen nur in ihrer eigenen Bubble, bleiben in ihrer Komfortzone, lediglich in einem anderen Land? Ja, ein bisschen ist das tatsächlich so. Das Kunstschaffen ist eine sensible Angelegenheit, das, um möglich zu werden, aber manchmal solcher Räume bedarf.

Natürlich wären die Künstler Franke, Kallenbach und Mempel nicht sie selbst, wenn sie sich während so einer Residency nur ins Atelier zurückziehen würden. Im Gegenteil. Neben den Arbeitsphasen im Atelier gibt es das Reisen, das Unterwegssein, den bewussten Kontakt zu den Menschen vor Ort, den Austausch und das Lernen.

Im Winter 2023/24 verbringt Kerstin Mempel sieben Wochen auf Costa Rica. Sie sucht ein indigenes Volk auf, das 100 km entfernt von ihrem Aufenthaltsort lebt. Sie spricht ein wenig Spanisch, aber den eigentlichen Kontakt, sagt Kerstin Mempel, knüpft sie, indem sie Menschen sucht, die ebenfalls künstlerisch arbeiten. Die Kunst ist die Sprache, die sie mit den Menschen in Verbindung bringt, am besten über das gemeinsame Tun und gegenseitiges Voneinander-Lernen. In diesem Fall sucht sie eine Werkstatt für traditionelle Masken auf und wird später selbst ihre eigene Maske herstellen.

Diese Geschichte des Einlassens auf fremde Menschen und Kulturen spiegelt sich auch in Kerstins künstlerischer Arbeitsweise wider: Sie geht mit ihrem Material ins Freie und setzt sich aus: dem Wetter, dem unbequemen und unsauberen Untergrund, der Störung durch Menschen, Ameisen und Mücken. Sie lässt den Ort als erstes auf ihr Arbeitsmaterial und stellt sich selbst die Aufgabe, damit künstlerisch umzugehen. Dadurch gelingt es ihr, den Ort ganz unmittelbar einzufangen.

In den drei Bildern der Serie „Jardin/Garten“ sehen wir, wie sie das macht: Wässrig gesetzte Farbflecken werden von exakt erfassten Pflanzenformen überschnitten. Deren Realismus wird aber wiederum abstrakt gebrochen, sodass ein filigranes Ornament aus Formen und Überschneidungen entsteht. Der Wechsel von organischen Formen und klärenden Linien führen zu einer Art rhythmisierter Fülle, die uns als Betrachter unermüdlich auffordert, durch das Bild zu wandern und uns in Details zu versenken. Dabei beherrscht sie gekonnt den Wechsel von Ballung und Leere, von Farbe und Freifläche, von Konturierung und offener Form.

Ganz anders die Collagen und Zeichnungen, die Sie hier an der Wand und dort drüben sehen.

In den Zeichnungen „Trainriding“ hat Kerstin Mempel auf ihren Zugfahrten durch Sri Lanka die Ansichten der Gebäude als spannungsreiche Kompositionen aus farbigen Flächen und Linien erkannt, die sie spontan in den drei Zeichnungen verarbeitet hat. Auch hier zeigt sich wieder die Lust am Wachstum, an der Fülle, an der unregelmäßigen Wucherung.

Diese Bildidee führt sie später im Atelier noch weiter: Die Formen der Hauswände, Dächer und Stromleitungen werden zu rein geometrischen Elementen, die sie zu dreidimensionalen Collagen inspirieren, in welchen der rhythmische Aufbau von Form- und Farbflächen zum alleinigen Thema wird. Interessant ist hier die ungewöhnliche, nach links geneigte Kompositionsrichtung, die dem Gefüge Spannung und eine gewisse Sperrigkeit verleiht.

Während das Motiv eine spontane Entdeckung ist, ist das Material, in dem die Bilder gearbeitet sind, nicht rein zufällig gewählt.

Bei ihrer Recherche vorab ist Mempel auf eine Fabrik auf Sri Lanka gestoßen, in der Papier aus Elefantenkot hergestellt wird. Fasziniert von dieser Praxis, mit vorhandenen Ressourcen ein erfolgreiches, nachhaltiges Geschäftsmodell aufzuziehen, besucht sie die Fabrik und die Menschen, die dort arbeiten. Und sie beschließt, genau dieses Material für ihre Kunst zu verwenden.

Die Keramikerin Susanne Kallenbach braucht, um im Ausland ihre Kunst entwickeln zu können, geeignete Werkstätten, Öfen – und: Zeit. Denn der Herstellungsprozess einer Keramik ist lang. Er erfordert die Arbeitsschritte des Modellierens, des Bemalens oder Färbens, des Glasierens, immer unterbrochen durch die entsprechenden Brände, in denen die Keramik für den nächsten Arbeitsschritt vorbereitet wird.

Bei ihrem letzten Aufenthalt in einer Porzellanwerkstatt in Jingdezhen, China in diesem Frühjahr konnte sie durch ein zehnwöchiges Arbeitsstipendium Werkserien mit dem dort vorkommenden Material Porzellan entwickeln. Zu unserem Pech wurde ein Großteil der Arbeiten direkt vor Ort von einer Galerie angekauft, sodass wir hier nur einen Ausschnitt dieser Porzellanarbeiten sehen. Dennoch vermitteln die drei Gefäße einen guten Einblick in ihr Vorgehen. In der ihr eigenen Technik von reliefartiger Außenstruktur und gleichzeitig absoluter Dünnwandigkeit erstellt sie mit dem neu erprobten Material des Porzellans rundumlaufende Malereien, die weder Anfang noch Ende haben.

Oftmals kristallisieren sich die Arbeiten, die durch einen bestimmten Ort inspiriert werden, erst im Nachgang heraus. Bei einem Arbeitsaufenthalt in Südfrankreich im Jahr 2007 ist Susanne Kallenbach fasziniert von dem dortigen Licht und der Landschaft. Sie experimentiert mit Tonen und Farben vor Ort, um sich dem Phänomen der Berge, die sie als „sun collectors“ beschreibt, zu nähern. In den Arbeiten „Tumblin´ rocks“, zu Deutsch „Tanzende Berge“ findet sie zu einer archaisch anmutenden Form, die das Motiv des Berges, seiner stillen Bewegtheit sowie seiner durch die Sonne aufgeladenen, energetischen Materialität Ausdruck verleiht.

Von hier ist es nur ein weiterer Schritt zur Öffnung der Form. Diese Form nennt sie „Becken“ Und wieder gelingt es Kallenbach, das grundlegende Wesen des Landschaftsphänomens „See“ oder „Senke“ in eine zeitlose, allgemeingültige Form zu gießen.

Nebeneinandergestellt stehen die Arbeiten „Rock“ und „Bassin“ für die beiden gegensätzlichen Pole einer Landschaft generell.

Clemens Franke ist ein Künstler, der sich technisch und formal nicht festlegen lässt. Er bedient sich unterschiedlicher künstlerischer Techniken, so wie sie ihm für die jeweilige Absicht hilfreich erscheinen.

Er hat das Glück, in kurzem zeitlichen Abstand zu zwei unterschiedlichen Auslandsstipendien eingeladen worden zu sein. Im Jahr 2024 bereist er mit einem Forschungsschiff die Arktis und Spitzbergen. Im Frühjahr 2025 reist er zusammen mit Susanne Kallenbach in die besagte Stadt Jingdezhen in China. Und gerade in der Verbindung dieser zwei so unterschiedlichen Erdregionen passiert in Frankes Werk etwas Bemerkenswertes: Es entsteht eine Symbiose beider Erfahrungen, die sich in den Arbeiten niederschlägt, die wir heute hier sehen.

In China erlernt und vertieft Franke die Techniken des Raku-Brandes sowie der Malerei auf Porzellan. Was er aber in diesem Material umsetzt, sind seine Eindrücke aus der Arktis. Sein Plan geht auf: Denn im Material des weißen Porzellans finden Eis, Wasser und Luft eine geradezu geniale optische Entsprechung. In dem Diptychon „Approaching the Glacier“ wird das wässrige Kobaltblau, das traditionell für chinesische Mingvasen verwendet wird, zum kristallinen Himmel über Spitzbergen. Die klassische Jadeglasur Celadon, in China seit jeher für ihre transparent-kühle Farbigkeit verehrt, wird zum mineralhaltigen Wasserlauf; die spontane Landschaftszeichnung in Schwarz fügt sich wie selbverständlich in die keramische Oberfläche ein.

Auf der Raku-Platte „Explorers“ sehen wir einen Teil der Geschichte Spitzbergens verbildlicht: Der Polarforscher Roald Amundsen startete seine Nordpolexpedition im Jahr 1926 mit einem Luftschiff auf Spitzbergen. Die Ambivalenz solcher Expeditionen, die immer auch den Machtinteressen von Staaten dienen und der rücksichtslosen Naturausbeutung den Weg ebnen, schwingt bei Franke als Bildinhalt immer mit. Er nimmt dabei auch seine eigene Expedition nicht aus: in der Arbeit „Hunters“ sieht man in der Bildmitte eine bewaffnete Person: Eine Frau, die zum Schutz der Reisenden vor Eisbären bei jedem Landgang dabei sein musste. Die anderen „Hunters“ im Bild jedoch sind die Künstler und Wissenschaftler, ihre Waffen: Kameras, Mikrofone und Notizblöcke.

Im Jahr 2018 haben die drei Künstler gemeinsam einige Wochen in Ladakh verbracht, das heute zum Unionsterritorium Indiens zählt. Der Aufenthalt hat bei allen drei Künstlerinnen einen tiefen Eindruck hinterlassen, die Arbeiten „Beobachter“, „Großer Tänzer“ und „Großes Orakel“ von Susanne Kallenbach sowie die Malereien „Tschörten“, „Dorf“ und „Landschaft“ von Clemens Franke verweisen darauf.

Ich möchte meine Rede mit einem Text von Susanne Kallenbach abschließen, in dem sie ihre Eindrücke des Aufenthaltes in Ladakh beschreibt:

Während der gemeinsamen Reise mit Clemens Franke, Kerstin Mempel und Volker Altenhof 2018 nach Ladakh besuchten wir zahlreiche abgelegene Landschaften und Klöster und hatten auch Gelegenheit, an zwei Klosterfesten teilzunehmen, die uns in ihrer Archaik und ihrer tiefen Gläubigkeit sehr beeindruckt haben, auch die Geburtstagsfeier des Dalai Lama mit zehntausenden überwiegend tibetischen Besuchern gehörte dazu.

Die Gemeinschaft dort ist von einer derartigen Freundlichkeit und Friedlichkeit, dass sie mir wie ein ideales Gesellschaftsmodell vorkommt, wo man füreinander und miteinander in Frieden lebt, denn die Lebensbedingungen sind derart feindlich, dass man seit Jahrtausenden auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen ist. Es ist ein bewusster Umgang mit schädlichen Gefühlen: Neid, Hass, andere schlecht machen, ebenso wie mit den spärlichen Ressourcen der Natur, sodass Nachhaltigkeit ein Gebot des Überlebens ist.

Dabei ist das Land in den höchsten Bergen von einer ungeheuren, kargen Schönheit in Farben und Formen und Klarheit, verwirrend durch die Höhenluft und die schwer einschätzbaren Distanzen und reizvoll durch die natürliche Einfachheit der Architektur im Kontrast zur überwältigenden Größe der Natur.